Aus der Schlangengrube trinken, Anna Maria Linder, 2025

Zur Ausstellung „Aus der Schlangengrube trinken“ im Kunstverein Gastgarten 2025. Ungekürzter Text zur begleitenden Publikation

Diese Geschichte beginnt nicht an einem Ort, sondern in einem Zustand: dem Schweben zwischen Gegensätzen, in der Spannung eines Moments der Unbestimmtheit. Ähnlich dem Netz einer Spinne entstehen Simone Karls Arbeiten aus komplexen Verbindungen, auch wenn ihre Formsprache auf größtmögliche Einfachheit und Klarheit reduziert ist. Ihre Installationen und Objekte umspielen die Kollision scheinbar konträrer Zustände: Anziehung trifft auf Abwehr, Sicherheit auf Bedrohung. Doch in diesem Hinterhalt der Widersprüche, in dieser schillernden Zwischenwelt, entsteht ein Raum, der nicht auflöst, sondern aushält. So auch Karls räumliche Inszenierung der Ausstellung Aus der Schlangengrube trinken, die – getaucht in verführerisches grünes Licht – von glänzenden Metallobjekten mit spitzen Oberflächen wie von gefährlichen Wesen bevölkert wird. Die vorliegende Publikation begleitet die Ausstellung als eine Art unvollständige Genealogie, um die Abstammungsverhältnisse von Karls künstlerischer Praxis offenzulegen. Dabei folgt sie keiner hierarchischen oder chronologischen Logik, sondern führt intuitiv durch eine Ansammlung aus vielschichtigen Widersprüchlichkeiten und überraschenden Assoziationsketten.

VERSUCHUNG
Simone Karls Kreationen, die aus Objekten der Kontrolle, des Jagens und Schlachtens bestehen, kehren die Machtverhältnisse um: Gegenstände wie Angel- oder Fleischerhaken, Pferdegebisse, Pfeile und Wildgalgen, die ursprünglich Tiere bedrohten oder gefügig machten, sind so miteinander verwoben, dass ihre Haken und Stacheln – verführerisch und bedrohlich zugleich – den Betrachter*innen entgegengerichtet sind. Die glänzend kalten Metalloberflächen besitzen eine dem Material eingeschriebene Anziehung, die zwischen Versuchung und potenzieller Bedrohung oszilliert. Durch das bewusste Spiel mit diesen Ambivalenzen wird die vermeintliche Eindeutigkeit des darin enthaltene Topos des Sündenfalls – jener archetypische Konflikt zwischen Schuld und Unschuld, Versuchung und Erkenntnis – als utopisch entlarvt. Die Schlange, die Eva verführt, ist zugleich Gift und Ausweg, Bedrohung und Schutz, Anfang und Ende. Sie reflektiert das Paradox menschlicher Existenz: Die Versuchung, die neue Möglichkeiten eröffnet, birgt die Angst vor dem Verlust der Unschuld, während das Wissen, das erleuchtet, die Last der Verantwortung mit sich bringt. Diese Dualität, tief verwurzelt in der Erzählung des Sündenfalls, zeigt den ewigen Konflikt zwischen Verführung und Konsequenz, in dem die Grenzen verschwimmen. Karl greift diese Spannungen auf, um sie in ihrer Kunst zu einer komplexen Choreografie aus Symbolen und Material zu verschmelzen.

WILDHEIT
Stechschutzschürzen aus dem Fleischereibedarf verwandelt Karl mit Piercings und Ringkarabinern in eine große, artifizielle Schlangenhaut, aus der hunderte Pfeilspitzen hervorragen. Die Assoziation zur abgestreiften Haut eines Tieres verleiht dem Material eine eigentümliche Lebendigkeit und regt zugleich die Imagination der Betrachter*innen an. Denn die Haut ist eine leere Hülle, ein Platzhalter für das wilde Wesen, das sich hier gehäutet haben könnte. In einer latent lauernden Angst vor der Wildheit offenbart sich zugleich die Furcht vor dem Ungezähmten: eine rohe Energie, die deutlich spürbar ist, aber unkontrollierbar bleibt. Sie steht für das, was jenseits von Disziplin und Ordnung liegt – eine instinktive Kraft, die sowohl Unsicherheit als auch Lebendigkeit in sich trägt. Die rohen Materialien, die Karl verwendet, wirken wie Artefakte einer fremden Welt, in der Gefahr und Schutz untrennbar miteinander verwoben sind. Zwischen den Plattenhemden des Stechschutzes und der Oberflächenstruktur von Haischuppen wird die Zwiespältigkeit menschlicher und tierischer Existenz greifbar: als Symbole einer ästhetisierten Verteidigung enttarnt der Schutzpanzer zugleich seine eigene Verletzlichkeit. Raubtiere wie Haie, Bären und Wölfe stehen für ungezähmte Kraft und potenzielle Aggression, aber ebenso für Selbstschutz und archaische, instinktive Wehrhaftigkeit. Ihre Präsenz erinnert daran, dass Wildheit nicht nur Bedrohung ist, sondern auch Bewahrung: eine Verbindung zwischen den rohen Impulsen des Lebens und der Zärtlichkeit, die in der Fürsorge für den eigenen Körper liegt.

AKZEPTANZ
Simone Karls Arbeiten verdeutlichen, dass die menschliche Existenz von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist, die nicht verdrängt, sondern bewusst angenommen und integriert werden will. Pferde und Hunde stehen in diesem Zusammenhang symbolisch für den Versuch der Zähmung und einer daraus folgenden Widerspenstigkeit. Die Akzeptanz dieses rebellischen Widerstands ermöglicht die Integration des Animalischen in das menschliche Selbst. Tiermasken, die in Subkulturen, insbesondere im Fetischismus und BDSM, verwendet werden, sind dabei weit mehr als bloße Requisiten. Sie sind tiefgreifende Symbole für die Auseinandersetzung mit Macht, Identität und Körperlichkeit. Sie ermöglichen Transformationen, die die Grenze zwischen Mensch und Tier, Zivilisation und Instinkt, verschwimmen lassen. Indem Karl Fetischobjekten wie Spreizern ihre Funktionalität entzieht und sie in fragile, florale Formen verwandelt, macht sie die Schönheit des Widersprüchlichen sichtbar. Was bleibt, ist ein poetisches Sinnbild für das Potenzial von Wandlung und die Kraft, durch das Loslassen von Kontrolle neue Bedeutungen zu schaffen.
In Simone Karls Werk wird die Dualität von Menschlichem und Animalischem zu einer Einladung, Grenzen neu zu denken und in der Spannung zwischen Impuls und Kontrolle einen Raum für Reflexion zu schaffen. Durch ihre Arbeit zieht sich dabei eine gewisse Rhythmisierung, die sich nicht nur visuell manifestiert, sondern auch die Struktur und die methodischen Prozesse durchdringt. Jedes Element – sei es ein Material oder auch ein Motiv – wird in ihrer Praxis zu einem Knotenpunkt eines Netzwerks, das intime und gesellschaftliche Strukturen gleichermaßen reflektiert. Karl lässt uns mit ihrer Kunst eine Zwischenwelt betreten: eine Zone, in der Furcht und Furchtlosigkeit koexistieren, wo fragile Stahlkonstruktionen den Raum besetzen, und uns einladen, die Ambivalenz und deren Zwischenräume zu erforschen. Es ist eine Kunst, die nicht nur darstellt, sondern enthüllt – eine Verbindung zwischen Körper, Geschichten und Material. Und am Ende hallt das Flüstern der Schlange: „Nein, ihr werdet nicht sterben: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf.“


IV, Anne Pretzsch, 2025

Anne, wie fühlt sich Metall an?

Gedicht zur Publikation „Aus der Schlangengrube trinken“ im Kunstverein Gastgarten 2025.


Crawl is a word that doesn’t exist in—, Simoné Goldschmidt-Lechner, 2025

Simoné, wie fühlt sich Haut an?

Gedicht zur Publikation „Aus der Schlangengrube trinken“ im Kunstverein Gastgarten 2025.


Desire and Defensiveness: Mercury Garden, Sylvia Sadzinski, 2024

Text zur Monografie, Ausstellung und dem Werkzyklus „Quecksilbergarten“, 2024

A garden is a laid-out, cultivated and demarcated piece of land intended for recreational and thus also spiritual or therapeutic purposes. One of the best-known gardens in Western cultural history is the so-called Garden of Eden, or paradise. According to Christian belief, in the Garden of Eden in its paradisiacal state before the Fall, neither thorns nor thistles were to be found. This certainly is not the case in Simone Karl’s Mercury Garden: spikes and thorns in the form of hooks, wires, piercings, bits, screws and chains are omnipresent in this cycle of works, consisting of installations, sculptures, constructs and collages which Karl conceives as assisted readymades or as sculptural material collages.

From a distance, works such as Forbidden Fruits. Always in Season, Crest, Conifer and Silver Leaf initially resemble plants or other organic and fluid forms, deriving from the artist’s observations of nature. Yet the closer we approach the works, the more this illusion seems to dissolve. Indeed, industrial materials and jewellery serve to imitate nature. Yet not until we examine them more intently do the individual structures and components become evident – and with them their inherent danger. The familiar and recognizable forms, upon closer inspection, trigger an awkward, almost unsettling feeling. Simone Karl thus generates moments of irritation yet, at the same time, creates moments of fascination. The works play with our longing to touch or graze them in passing, to walk through them or even to apply them to our bodies. They alternate between flowing and rigid, soft and hard, representational and abstract. The pointed hooks, spikes and wires make us recoil. What we see therefore strikes us as inviting and intrusive all at once. The materials used by the artist follow an aesthetics that can seem both brutal and seductive. Full of contradiction and ambivalence, they invite us to engage in a dangerous game where moments oscillating between pleasure and pain, between beauty and dread are negotiated. Desire and defensiveness are closely aligned. When do we find something repulsive? When are we attracted to it? When is something pleasurable, when painful, when dangerous? An involvement with these questions is also exemplified by the work The Proposal, in which the lily of the valley perfume could easily be mistaken for the lily of the valley poison. Where exactly are the boundaries between seduction and danger? In this regard, the cycle of works also bears witness to the interplay between humans, nature, power relations and self-determination.

Associations arise with subcultural aesthetics of punk and gothic, but also with fetish and torture instruments or the self-determined negotiation and consensual transgression of the boundaries of one’s own body in the field of BDSM. The human body is present – even if we do not see it. This effect is achieved through the use of jewellery, among other objects, especially in the works Harness and Hunger, which refer to the body directly. Like the works and materials themselves, it appears as strong and resistant, yet also malleable and, indeed, capable of becoming dangerous. It is imbued with a defensiveness that particularly fascinates Karl. The ability to prevent or reject attacks and thus to react to aggression, violence and danger is an essential focus of her artistic interest, which is also informed by a feminist subtext.

In addition, the works follow a rhythm. They are determined to a great extent by repetitive, manual production processes which could be continued indefinitely. In their rhythmic design and order, they follow a melodic flow, thus creating an interplay between dense accumulation of material and impressions of expanse, calm and clarity. With Karl, who comes from a family of construction workers, drawing on rhythmic, raw, symmetrical and repetitive elements can be described as a distinct method. Small components and selected materials are sculpted and modified by hand. They repeat themselves continuously and almost meditatively, similar to the social processes and temporal structures we are embedded in. The only constant is change. Time is understood as perpetual and infinite. This also becomes clear in Nocturnal Garden, a series of collage-like photograms centred on the night and photographs of the universe. Alluding to the simultaneity of time and space, of the present, past and future, they too play with our perception.

The synchronicity of things and the fluidity of space between two supposed opposites characterize this cycle of works. Full of tension and with an aesthetic, almost monochrome clarity, the mercury garden invites the viewer to take a closer look. It demonstrates how important a second glance and a change of perspective can be – in all areas of life. After all, meanings are constantly being recomposed; ambivalences, contradictions and simultaneities must be continuously negotiated and tolerated. In today’s complex world, dichotomies thus appear outdated and, above all, inadequate. And finally, nature itself is constantly affected by contradictions and simultaneities. Simultaneity is also a characteristic feature of mercury as a substance. The heavy metal – chemically Hg or hydrargyrum, which can be translated as liquid or living silver – is a naturally occurring substance which, as a chemical element, is not degradable and accumulates in the environment. Mercury is present throughout the environment; however, its compounds are highly toxic to the latter and to humans. The earth releases mercury in powerful, elemental and hardly controllable processes such as erosion, volcanic eruptions and geysers. In antiquity and the Middle Ages, mercury was used medicinally in Europe for a long time, for example, to treat the symptoms of syphilis, also referred to as the plague of lust. At the end of the 19th century, it was administered as a medicine in partially toxic quantities to treat so-called women’s ailments. Within traditional Asian medicine, mercury is still sometimes used as a component of medical preparations. In the practice of Ayurveda in India, for example, the metal is mixed with herbs and minerals. Known as a toxic remedy, healers have always been aware of the dangers of mercury poisoning. They developed complicated procedures to purify and detoxify mercury and make it suitable for consumption. For only if it is correctly processed and applied can mercury be a highly effective and harmless medicine. This also reflects the area of tension in which the Mercury Garden finds itself and rejects all generalizations.

Simone Karl’s work cycle Mercury Garden is therefore both a place of pain and a space of self-empowerment. It is not a paradisiacal garden, but with its multiple elements and objects rather a kind of pleasure garden conceived to challenge many of our senses and emotions while referring to the resistances and contradictions of the the world we live in. Infringements on the body’s boundaries, the restriction of its movements and the threats surrounding it form the subtext here. And yet, following the concept and definition of a garden, it nonetheless fulfils a healing and therapeutic purpose: it highlights the autonomy, self-determination and resilience of the human body and subject. In the end, it is only by seeing, accepting and embracing pain that we can find the strength to transform it and grow beyond ourselves as individuals and as a society.

Sylvia Sadzinski works at the interface of contemporary art, curatorial practice and feminist theory.


Uncover I & II: Sichtbarmachung und Selbstermächtigung, Sylvia Sadzinski, 2023

Text zur Ausstellungsreihe „Uncover“ im Westwerk und Künstlerhaus Sootbörn 2023

Das zweiteilige Ausstellungsprojekt Uncover I & II widmet sich im Hamburger Westwerk (29.06. bis 09.07.2023) sowie dem Künstlerhaus Sootbörn (26.08. bis 10.09.2023) der Auseinandersetzung mit Macht- und Gewaltstrukturen und einer gesellschaftskritischen Kennzeichnung von Missständen und Machasymmetrien. Im Zentrum des Projekts steht die künstlerische Verhandlung von geschlechtsspezifischer sowie sexualisierter Gewalt und damit einhergehender Traumata, die sich auf unterschiedliche Arten in den Körper einschreiben können. Im Rahmen der Ausstellungen wird sexualisierte Gewalt einerseits als persönliche Erfahrung aufgearbeitet, jedoch auch als gesellschaftliches Phänomen und Problem aufgefasst, das unterschiedliche soziale Machtverhältnisse verdeutlicht – insbesondere in Hinblick auf Geschlechtlichkeit und einer damit einhergehenden Mysogynie.

Verschiedene Konventionen und Gesetze definieren geschlechtsspezifische Gewalt als physische, psychische und sexuelle Gewalt gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts – in den allermeisten Fällen trifft sie Mädchen, Frauen und weiblich gelesene Personen. Geschlechtsbezogene Gewalt ist daher eng mit Diskriminierung und patriarchalen Machverhältnissen verknüpft und steht mit struktureller und kultureller Gewalt in Verbindung.1 Sie hat weniger mit Sexualität oder vermeintlichen sexuellen Bedürfnissen, sondern insbesondere mit der Demonstration bzw. Ausübung von Macht zu tun. Geschlechtsstereotype, Geschlechternormen, Sexualitätsmythen, Geschlechterhierarchien und reale Machtverhältnisse sichern die Ausübung geschlechtsspezifische Gewalt. In antiken Mythen, der europäischen Kunstgeschichte und der zeitgenössischen (Pop-)Kultur werden Hass, Gewalt und selbst der Mord an Frauen und weiblich gelesenen Personen seit jeher verklärt, ästhetisiert oder romantisiert2. Sexualisierte Gewalt wird in Filmen reproduziert, in Liedern besungen und in der Kunst häufig bagatellisiert. Die künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung mit dem Thema findet meist aus einem sogenannte male gaze statt – aus einer männlichen, heterosexuellen Perspektive –, was dazu führen kann, dass Darstellungen re-traumatisieren, durch die Reproduktion sogenannter Vergewaltigungsmythen3 Gewalt gegen Frauen verharmlosen oder stereotypisieren und so zu einer Umkehr von Täter und Opfer beitragen. Nicht selten führt dies dazu, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt häufig mit weiterer gesellschaftlicher Stigmatisierung, Abwertung und Ausgrenzung konfrontiert sind.

Uncover I & II schafft einen feministischen Gegenentwurf zu diesen künstlerischen Darstellungen und kulturellen Erzählungen der Vergangenheit und Gegenwart. Die Arbeiten von Jenny Bewar, Suse Iztel, Simone Karl, Jay Ritchie und Mika Sperling, die Collagen, Installationen, Fotografien, Objekte, Video-Performances und textbasierte Arbeiten umfassen, verstehen Sichtbarkeit als produktive und diskursive Macht. Sie kann einerseits dazu beitragen, mehr gesellschaftliche Anerkennung zu generieren. Denn das, was gesehen wird, gilt in als wahr und gültig, weil es mit den eigenen Augen erfasst werden kann. So generieren die Arbeiten Sichtbarkeit für Erlebnisse und deren Auswirkungen, die häufig nicht nur unsichtbar bleiben, sondern gleichzeitig nicht darstellbar zu sein scheinen.

Seit den 1960er Jahren haben feministische Künstlerinnen in ihrem Schaffen sexualisierte Gewalt als Teil der eigenen Biografie oder als gesellschaftliches Problem thematisiert, sich einer gesellschaftliche Tabuisierung und dem damit einhergehendem Schweigen entgegengestellt und Formen der Auseinandersetzung und Verarbeitung gesucht. 4 Viele dieser Arbeiten werden heute u.a. der sogenannten Abject Art zugeordnet. Dieser in den 1990er Jahren geprägter Begriff bezeichnet Kunstpraxen, die sich mit dem sogenannten Abjekten, d.h. mit gesellschaftlich tabuisierten Materialien und Themen beschäftigen und sich im Zuge feministischer Debatten verstärkt mit dem eigenen Körper auseinandersetzen. Dadurch wird der Kunst eine kathartische Rolle zuteil, die Agency fokussiert, Scham überwinden kann, eine inneren Distanzierung ermöglicht und so das Selbstbewusstsein stärkt.

Die Künstler*innen von Uncover I & II verlassen immer wieder die Ebene der reinen Sichtbarmachung. Der gesellschaftlichen Beschämung setzen die Künstler*innen nahezu furchtlos die eigene Biografie entgegen und nehmen dadurch Momenten der individuellen und sozial produzierten Scham ihre Kraft. Verletzlichkeit und Sanftheit werden zu positiven Attributen umgedeutet. In einer Gesellschaft, die einen Mangel an Emotionen vorzieht, wird das unapologetische Teilen von emotionalisierenden Erfahrungen und Emotionen zu einem politischen Akt. Emotionen, insbesondere jene, die als ein Zeichen von Schwäche gelesen werden, richten sich damit gegen ein maskulines Verständnis von Stärke und fragen nach der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen durch Empathie und einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Das gemeinschaftliche Zelebrieren von Sensibilität bekommt dadurch einen kollektiven selbstermächtigenden Charakter. So wird ein wichtiges Augenmerk im Rahmen des Ausstellungsprojektes auch auf auf die sozio-emotionale Interaktion zwischen dem Kunstwerk und den Betrachter*innen gelegt: als Betrachter*innen sehen wir nicht nur, wir fühlen und verstehen durch dieses (Mit-)Fühlen. Das künstlerische Aufbegehren wird dadurch auch zu einem aktivistischen Aufbegehren gegen sexualisierte Gewalt.

Gleichzeitig zeigt Uncover I & II auf, inwiefern sich Traumata in unsere Köper einschreiben können und verhandelt dadurch verschiedene Körperdiskurse und Definitionen von Körper, Leiblichkeit und Embodiment bzw. Verkörperung. Der Körper ist jederzeit von vergangenen und gegenwärtigen sozialen Strukturen und persönlichen Erinnerungen durchströmt. Er ist ein Ort, in dem sich Erfahrungen und Erinnerungen einschreiben und zu Traumata manifestieren können. Gleichzeitig ist er Mittel und Medium der Verarbeitung, Resilienz und Selbstermächtigung.

Das Ausstellungsprojekt Uncover I & II übersetzt biografische Erfahrungen sowie herrschende Gewalt- und Machtstrukturen in einen soziopolitischen Diskurs. Es erweitert Narrative um geschlechtsspezifische Gewalt und wird zu einem Ort, an dem Gemeinschaft entsteht und Formen eines feministischen Widerstands erprobt und neue Wahrheiten konstituiert werden. Durch ihre künstlerische Auseinandersetzung eröffnen Jenny Bewar, Suse Iztel, Simone Karl, Jay Ritchie und Mika Sperling einen Handlungsraum für Betroffene von sexualisierter Gewalt, bieten (Selbst-)Ermächtigungstrategien an und generieren dadurch Handlungsmacht. Die künstlerischen Positionen verdeutlichen, dass in der Vulnerabilität und Authentizität unsere eigentliche Stärke zu finden ist. Dass Verletzlichkeit, Widerstand und Stärke keine Gegensätze bilden, sondern sich einander bedingen und persönliche Heilung sowie gesellschaftliche Veränderung ermöglichen können. Nur, indem individuelle Traumata öffentlich verhandelt werden, über sie gesprochen und nicht geschwiegen wird, kann der intergenerationale Kreis der Gewalt durchbrochen und eine gesamtgesellschaftliche Transformation ermöglicht werden.

Jenny Bewer versteht den Körper als einen Ort, in dem sich Erfahrungen und Erinnerungen einschreiben und zu Traumata werden können. Wie manifestieren sich diese Traumata im Körper? Welche Spuren hinterlassen sie? Ausgehend von einer Autoimmunerkrankung und Herzrhythmusstörungen, die die Künstlerin Mitte 20 während einer missbräuchlichen Beziehung entwickelte, widmet sie sich in den Fotografien ihres Werkkomplexes Your Body Remembers (2022) der Frage nach den Auswirkungen von emotionaler Gewalt. Psychische Manipulation, Praktiken wie Gaslighting, direkte Drohungen und Demütigungen, einschüchterndes und kontrollierendes Verhalten, verbale Erniedrigungen und Beschuldigungen sind meist zunächst körperlich unsichtbare und oftmals sehr subtile Taktiken, die eine Form von seelischer Misshandlung darstellen. Als schleichender Prozess von Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen wird diese Form von Gewalt von Betroffenen, aber auch von Personen aus ihrem Umfeld, lange Zeit nicht als Gewalt erkannt.5 Verschiedene Studien verdeutlichen, dass seelische Misshandlungen schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit haben, die sich nicht selten auch auf den Körper übertragen und als physische Erkrankungen erkennbar werden. 6

Your Body Remembers vereint mehrere Motivwelten: Die Fotografien zeigen die Hände der Künstlerin, eigene Körpersilhouetten aber auch verfremdete Privataufnahmen des Körpers ihres Ex-Partners aus Zeiten der Beziehung. Sie verhandeln die Ursache ihres Traumas und die körperlichen Auswirkungen. Die Arbeiten wecken Assoziationen an Röntgenaufnahmen, mit denen in der Medizin bestimmte krankhafte Veränderungen im Inneren des Körpers sichtbar gemacht werden sollen. Als sogenanntes bildgebendes Untersuchungsverfahren sind sie Teil unserer westlichen Erkenntnisgrundlage, die das Sehen als Praxis für die Gewinnung von Wissen gegenüber allen anderen Sinnen privilegiert. Wie können wir Traumata darstellen und welche Folgen sind sichtbar, welche bleiben unsichtbar? Einzelne Fotografien der Serie sind bewusst uneindeutig, sie überlappen und verschwimmen, werden zu vielen Körpern, die in der Spiegelung auch den Körper der betrachtenden Person als weitere Schicht mitaufnehmen können. Anders als Röntgenaufnahmen liefern sie uns keine eindeutige Antwort auf die Frage nach Ursache und Wirkung.

Die roten Flecken bzw. Punkte auf den Fotografien können als sogenannte Triggerpunkte gelesen werden und symbolisieren Schmerzen und Entzündungen im Körper, erinnern jedoch auch an Akupunkturpunkte, mit denen in der chinesischen Medizin verschiedene Erkrankungen behandelt werden können. So fragt Jenny Bewar einerseits nach dem Ursprung von traumatischen Erlebnissen und nach dem Umgang mit ihnen und ihren Auswirkungen, aber auch nach Möglichkeiten der Auflösung und Heilung. Dabei lässt die Arbeit die dualistischen Definitionen von Körper und Geist, Innen und Außen und Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verschwimmen.

Die neuste Werkreihe Abuse of Power (2023) ist eine visuelle Übersetzung von Erlebnissen und Traumata von Besucher*innen der Ausstellung Blindspot, die 2022 in der Galerie 21 im Künstlerhaus Vorwerk-Stift stattfand. Die Besucher*innen wurden angehalten, in einem geschützten Raum ihre eigenen traumatischen Erfahrungen aufzuschreiben und anonym, aber öffentlich zu teilen. Eine Auswahl dieser Beiträge wurde daraufhin auszugshaft von der Künstlerin fotografisch übersetzt und verfremdet. Erneut werden Ästhetiken bildgebender Verfahren aufgenommen, wobei sie aufgrund der Motive, der eher monochromen Farblichkeit und der Unmittelbarkeit der Umsetzung und Präsentation ohne Glas an Plakate aus Popkultur, Werbung und Medien erinnern – jene Branchen und Bereiche, in denen Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe von Männern gegenüber Frauen in den letzten Jahren z.B. durch Bewegungen wie #MeToo zunehmend öffentlich angezeigt, verhandelt und sichtbar gemacht wurden. Abuse of Power verwebt die individuellen Erlebnisse Einzelner zu einer kollektiven Erzählung und einem gemeinschaftlichen Erfahrungsraum, der deutlich macht, dass sexualisierte Gewalterfahrungen als systematischer Teil unserer Gesellschaftsstruktur betrachtete werden können und müssen und dass sexualisierte Gewalt immer in einem Machtgefälle begründet liegt.

Suse Itzel nutzt insbesondere Schrift und Sprache als Medium, um ihre eigene Geschichte zu verhandeln. Wer trägt die Verantwortung, um den Zirkel des Schweigens zu durchbrechen? Wann findet Heilung statt und welche Rolle spielen dabei medizinische Institutionen? Gibt es einen Moment, an dem wir mit dem Gewesenen abschließen können?

FAKE IT TILL YOU MAKE IT – FAKE IT TILL YOU DIE (2022-2023) ist eine fortdauernde Arbeit und besteht aus Infoblättern zu Psychoeduktion und Emotionsregulation, aus Arbeitsblättern zum Ausfüllen aus der Verhaltenstherapie und aus Transkripten der Verhaltens- und Trauma-Konfrontationstherapiesstunden der Künstlerin, in denen sie ihre eigene Misssbrauchserfahrungen und die damit einhergehende Diagnose der Posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln. Einzelne Buchstaben hat sie aus diesen Transkripten ausgeschnitten und dadurch einerseits die persönlichen Berichte verfremdet. Sie werden porös, die Grausamkeiten verdünnt, die Lesbarkeit wird erschwert oder gar unmöglich gemacht. Die Erzählung wird für die Besucher*innen zu einem Fragment, auch, da die einzelnen Blätter sie frei im Raum präsentiert werden und so in eine neue und willkürliche Reihenfolge gebracht werden können. Durch die Cut-Outs werden die Leerstellen der eigenen Erinnerung verdeutlicht. Die Tätigkeit des Ausschneidens, die an das kindlich-spielerische Basteln erinnert, hat wiederum selbst eine meditative und therapeutische Wirkung. Die einzelnen Cut-Outs werden dann wiederum auf schwarze Blätter geklebt und zu einem Tableau, dass an eine Schultafel erinnert. Dieses Tableau wirkt typografisch und fast fotografisch, nimmt die Negative der Cut-Outs auf und verwendet sie neu, bzw. macht sie zu den Positiven. Es verweist ebenso wie der Titel der Arbeit auf Manifestationen und Coaching-Sprüche, wie wir sie in Büchern aber auch auf Social-Media-Kanälen finden. Sie entsprechen der neoliberalen Überzeugung, dass wir für unser Glück und Wohlbefinden selbst verantwortlich sind und suggerieren und versprechen, dass sogenannte positive Affirmationen unser Unterbewusstsein nachhaltig beeinflussen können. Dabei steht nicht nur das individuelle Wohlbefinden und die eigene Heilung im Fokus sondern auch der gesellschaftliche Imperativ des Funktionierens und Glücklichseins, um so als produktiver Teil der Gesellschaft gelten zu können.

Der Text Ich habe diese Recherche vorerst abgebrochen (2023) beschäftigt sich mit der permanenten Arbeit der Verarbeitung von Traumata, dem Versuch und dem Scheitern als produktives künstlerisches Moment. Von Dezember 2022 bis Ende Februar 2023 ging Suse Itzel sechs Mal zum Landgericht Köln, um einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen, bei der ein 45-jähriger Mann angeklagt wurde, mehr als 20 Kinder missbraucht zu haben. Im März und April wollte die Künstlerin ebenfalls einem Prozess in Münster bewohnen – und schaffte es nicht. Die Notizen zu diesen Verhandlungen sollten in einen autofiktionalen Text münden, der nun eine Auseinandersetzung mit dem Moment des Scheiterns wird. So verweist diese Arbeit auch auf die Macht des Unbewussten, das in den meisten Fällen unsere Handlungen bestimmt, auch wenn wir den Menschen immer wieder als rein rationales Wesen verstehen möchten.

Simone Karls installative Arbeiten Not one more… but still I am counting (seit 2021) und 8 (2021) verhandeln strukturellen Sexismus und misogyne Gewalt, die in Femiziden – der Tötung von Frauen durch Männer aus frauenfeindlichem Motiv heraus – ihre extremste Erscheinungsform findet. Während Männer überwiegend gewaltsamen Auseinandersetzungen mit anderen Männern im öffentlichen Raum zum Opfer fallen, werden Frauen deutlich häufiger von Männern aus ihrem nahen Umfeld getötet. Femizide erfolgen am häufigsten, wenn eine Frau die Trennung vom Partner beabsichtigt oder eine autonome Entscheidung über ihr Leben trifft. Medial werden diese Taten mit euphemistischen Begriffen wie ‚Beziehungstat‘, ‚Liebes-‚ oder ‚Familiendrama‘ oder mit dem kulturalisierenden Begriff ‚Ehrenmord‘ oftmals bagatellisiert. Deutschland zählt zum aktuellen Zeitpunkt im Jahr 2023 bereits 58 Frauenmorde, sodass statistisch alle drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird 7.

Not one more… but still I am counting nimmt die Statistiken von sieben Ländern im Zeitraum von 2015 bis 2021 zur Grundlage, um die Anzahl an Frauen, die Femiziden zum Opfer fielen, wie auch deren Dunkelziffern rückend zu visualisieren und zu verdeutlichen. Dabei spielt es keine Rolle, welche der sogenannten Flaggen zu welchem Land zuzuordnen ist. Vielmehr machen die Stoffbahnen, die zusammen weit über 50 Meter lang sind, deutlich, dass Femizide ein globales Verbrechen und Problem darstellen und dass die einzelnen Schicksale bei Statistiken im Allgemeinen und insbesondere bei der hohen Anzahl an Morden oftmals in den Hintergrund geraten.

Die Verwendung von römischen Zahlen ermöglicht ein kontinuierliches Zählen. Sie macht gleichzeitig deutlich, dass dieses Zählen damit unendlich sein kann und auch die Arbeit kein Ende, sondern lediglich einen zeitlichen Abschluss finden kann. Das kontinuierliche Verschwinden von Frauen zu zählen, ist unmöglich. Dieses inhärente Scheitern wird zu einem wichtigen Teil der Arbeit, da es die eigene Ohnmacht angesichts der Menge verdeutlicht. Händisch werden die Zahlen in den Stoff gebleicht, sodass die Farbe verschwindet und sich dadurch der Verlust einer weiteren Frau materialisiert, wenn ein neues Opfer hinzukommt. Seit jeher wird Bleiche zum Aufhellen von Textilien, aber auch zum Reinigen verwendet. Sie erinnert an reproduktive Arbeiten im Haushalt, die häufig immer noch Frauen zugeschrieben werden. Eine Projektion, die auf einer Statistik des United Nations Office on Drugs and Crime basiert, zeigt die aktuelle Anzahl an Femiziden an und steigt ununterbrochen alle 10 Minuten und 51 Sekunden und täglich um 137 Femizide nach oben.

Daran anschließend bezieht sich die Installation 8 auf den sogenannten Acht-Stufen-Plan der britischen Kriminologin Jane Monckton Smith, der dazu dient, Frauenmorde zu verhindern. Er zeigt die acht Stadien von Beziehungen, die mit Mord oder Totschlag enden können und helfen soll, Risikobeziehungen zu erkennen und einzugreifen, bevor es zu Gewaltdelikten kommt. Mit den eignen Händen hat die Künstlerin die industriell hergestellten IKEA-Vasen, die als Dekogegenstand den privaten Raum verschönern sollen, nach und nach zerbrochen. Zu Beginn sind die Brüche und Einwirkungen dieser in diesem Fall körperlichen Gewalt noch nahezu unsichtbar. Doch spätestens bei der fünften Vase bzw. Phase kann die Vase nicht mehr ihren Zweck erfüllen und dazu verwendet werden, Blumen, die auch als Symbol der Versöhnung und Entschuldigung verstanden werden, zu konservieren. Simone Karl zeigt auf, inwiefern die Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich immer noch als unsichtbares und privatisiertes Verbrechen verhandelt und nicht als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet wird.

Das neuste Werk zum dornenbaum werden (seit 2022) kann als Reaktion auf die beiden vorherigen Arbeiten verstanden werden. Die Installation besteht aus 72 Dornenstäben, die zunächst filigran, fein und fragil wirken, aber auf den zweiten Blick aufgrund ihrer Materialität bestehend aus Nägeln, Gummi und Draht zu brachialen Waffen werden. Diese Gleichzeitigkeit aus Schönheit und Wehrhaftigkeit kann als ein Verweis auf den Körper gelesen werden. Immer wieder bewegt er sich zwischen Momenten der Behutsamkeit, Vertrautheit und der Gefahr, muss Grenzen ausloten, diese wahren und sich wehren und schützen. So stellt zum dornenbaum werden einen feministischen Versuch dar, sich aus einer sogenannten Opfererzählung zu befreien und verweist auf die Resilienz, die allen Körpern inhärent ist. Diese wicht nicht nur sichtbar, sondern auch greifbar. Gleichzeitig erinnert die Installation an die Überlegungen der Theoretikerin Suely Rolnik, die den Körper als schwingenden Körper begreift. Für Rolnik ist das ‚In-der-Welt-Sein‘ ein stetiger Aushandlungsprozess, bei dem der menschliche Körper Widerstände erlebt, denen er eigensinnig und eigendynamisch entgegenwirken kann. Körper sind jederzeit von vergangenen und gegenwärtigen sozialen Strukturen durchströmt.

In I Have Done Nothing Wrong / Ich Habe Mir Nichts Zu Schulden Kommen Lassen (2020-2022) arbeitet Mika Sperling das Tabuthema von sexualisierter Gewalt an Kindern innerhalb der Familie anhand ihrer eigenen Geschichte und der Verbrechen ihres Großvaters auf. Die Arbeit besteht zum einen aus Familienfotografien, die jener mittlerweile verstorbene Großvater der Künstlerin alle paar Wochen in den Jahren 1996 bis 2007 schenkte. Sorgfältig hat die Künstlerin den Großvater auf diesen Familienfotos ausgeschnitten und auf unterschiedlich farbige Papierbögen im DIN A-4 Format geklebt. Weitere farbige Papierbögen präsentieren Zeichnungen aus der Kindheit der Künstlerin, andere Fotografien, die dem Blick der Betrachter*innen verborgen bleiben. Lediglich die kurze, recht nüchterne Bildbeschreibung, die auf Schreibmaschine getippt wurden, helfen uns, die Familienaufnahmen vor unserem inneren Auge sichtbar werden zu lassen. Die Ausschnitte des Großvaters werden wiederum umgedreht und so verdeckt zu einer weiteren größeren Collage arrangiert und in einen schwarzen Umschlag gepackt. Ohne, dass wir den Großvater sehen, ist er dennoch sichtbar. Die Collagen werden durch fünf Fotografien der Künstlerin erweitert. Sie zeigen u.a. Aufnahmen von rosafarbenen Blumen, die kulturhistorisch Zärtlichkeit, Liebe und Sehnsucht symbolisieren, und ihrer Tochter, deren Geburt die verdrängten Erinnerungen an das Trauma wieder hochkommen ließen. Sie sind zwischen dem ehemaligen Elternhaus und der früheren Wohnung des Großvaters entstanden. Ein Schachfigurenset sowie ein Skript, in dem die Künstlerin in einem fiktionalen Gespräch mit dem Großvater nach Antworten sucht, ist der finale Bestandteil der Arbeit.

So vereint I Have Done Nothing Wrong / Ich Habe Mir Nichts Zu Schulden Kommen Lassen unterschiedliche Zeitlichkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und einer imaginierten Zukunft, in der ein Gespräch mit dem Großvater die Vergangenheit greifbar macht.

Aufgeklebt auf unterschiedlich farbigen Papierbögen im DIN A-4 Format wecken die zerschnittenen und vom Anblick des Großvaters befreiten Fotografien Erinnerungen an die eigene Kindheit, in der das spielerische Basteln mit Schere und Papier zum regelmäßigen Zeitvertreib und Teil der Früherziehung wurde. Gleichzeitig eignet sich die Künstlerin dadurch ihre eigene Kindheit wieder an, indem sie sich dieser spielerisch nähert. Durch die mit der Schreibmaschine getippten Bildunterschriften wirken die Arbeiten wie Dokumente, die zu Evidenzen der Vergangenheit werden.
Das Hauptcharakteristikum der Collage als künstlerische Form ist seit jeher die Nähe des Kunstwerks zur wirklichen Welt. In der Kombination aus Materialien wie den alten Fotografien und den Bildunterschriften und den neuen fotografischen Arbeiten der Künstlerin kann die gesamte Arbeit I Have Done Nothing Wrong / Ich Habe Mir Nichts Zu Schulden Kommen Lassen als eigene Assemblage bzw. Collage gelesen werden. Diese gibt der Vergangenheit eine neue Realität und Wirklichkeit. Nicht alles innerhalb dieser Wirklichkeit wird direkt sichtbar, einiges bleibt für die Betrachter*innen unsichtbar, anderes müssen sie bewusst suchen. Wie ein Rätsel bleiben einige Dinge im Verborgenen. Geheimnisse und Unsichtbarkeiten werden dabei zu einem wichtigen Teil der Arbeit. Sie machen deutlich, dass wir immer wieder auch unsere Perspektive wechseln, genau hinschauen und die Hinweise richtig deuten müssen, um die vermeintliche vollständige Wahrheit zu erkennen. Außerdem macht sie deutlich, dass der intergenerationale Kreis von Gewalt durchbrochen und eine gesamtgesellschaftliche Transformation ermöglicht werden.

Jay Ritchies Installation irgendwo mit mir (2017-2022) besteht aus drei Teilen – einem Buch mit Texten von Ritchie, leicht transparenten Textilien mit schwarz-weißen Landschaftsaufnahmen sowie fotografischen Selbstportraits und Körperbildern. Im Zentrum steht dabei der eigene Umgang mit den Erfahrungen von sexualisierter Gewalt sowie mit den sichtbaren und unsichtbaren Spuren, die diese auf und im Körper hinterlassen und so auch Jahre später den Alltag, die Gedanken und Handlungen von Betroffenen prägen können. Wie die Fotografien haben auch die Texte im Buch keinen dokumentarischen Charakter, sondern verhandeln Träume, Wunschvorstellungen, Erinnerungen aus der Zeit zwischen 15 und 20 aber auch die harte Realität mitsamt der Folgen und Einschreibungen der Erlebnisse. Die fotografischen Arbeiten und Texte sind direkt und können teilweise irritieren oder verstören, sind aber ebenso poetische Gedanken. Sie machen die Vielschichtigkeit des Umgangs mit sexualisierten Übergriffen deutlich. Der Körper ist hierbei einerseits Träger des Traumas, aber gleichzeitig auch das Medium der Aufarbeitung, Heilung und Verarbeitung. Er ist verletzlich und resilient zugleich.

Das Buch als Ausstellungsobjekt kann nicht erworben oder mitgenommen werden. Im Raum der Ausstellung entscheiden die Besucher*innen selbst, wie viel sie sehen, lesen und somit erfahren möchten. Dadurch schafft Ritchie einen selbstbestimmten Handlungsraum für sich und das Publikum. Es ist eine Einladung für eine intensive Auseinandersetzung mit den Folgen von sexualisierter Gewalt, wobei das Zuklappen eine unmittelbare Distanzierung zum Thema und den Erfahrungen von Jay Ritchie ermöglicht.

108 Portraits ist Fotografie und Objekt zugleich. Die Arbeit verhandelt Körper, auch wenn sie nicht zu sehen sind. 108 Wärmflaschen stehen für all jene, die aus Scham und Stigma ihre Erfahrungen von sexualisierter Gewalt nicht anzeigen und an die Öffentlichkeit bringen können. Wie in einem Schaukasten werden sie präsentiert. Die Wärmflasche ist ein Symbol für Krankheit und Heilung, für Schmerzen und Wärme, sie trägt die Ambivalenz des menschlichen Körpers mit seiner Verletzlichkeit und Stärke in sich.

Die mehrteilige Video-Performance Die Beerdigung (2021-2022) handelt von der persönlichen Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch. In der Traumdeutung steht die Beerdigung für das Loslassen und Abschließen einer Sache. Die befüllten Wärmflaschen verdecken den Körper, sie sind einerseits Hilfe aber hier auch Last und stehen für den Schmerz und das Trauma, von denen sich die Person im Video nach und nach selbstermächtigt befreit. Wir werden zu Zeug*innen von dem langwierigen und schwierigen Prozess der Befreiung von der Last des Leids.

2 Sexualisierte Gewalt gegen Frauen war u.a. in beliebtes Motiv der Alten Meister, die regelmäßig Vergewaltigungen in ihren Gemälden glorifizieren, siehe beispielsweise Peter Paul Rubens „Der Raub der Sabinerinnen“ (1635-40), Massimo Stanziones „Susanna und die beiden Alten“ (1630/35) sowie auch bereits frühere diverse Darstellungen der Mythen um die Vergewaltigung der römischen Lucretia (u.a.Tizian 1571).

3 Vergewaltigungsmythen können dazu dienen, sexualisierte Gewalthandlungen zu leugnen, zu bagatellisieren, umzudeuten oder zu entschuldigen. Sie betreffen Vorstellungen von der Definition einer Vergewaltigung, beziehen sich ebenso auf Ursachen und Folgen von sexualisierter Gewalt. So machen vor allem Annahmen, die den Betroffenen eine Mitschuld geben und so die Tat entschuldigen eine stereotype Vorstellung zu einem Vergewaltigungsmythos. Die Mythen können dabei u.a. durch Statistiken und Erfahrungsberichte widerlegt werden.

4 Darunter beispielsweise Tracy Emin, Teresa Margolles, Ana Mendieta oder Niki de Saint Phalle.

5 Laut der Prävalenzstudie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lebenssituation, Gesundheit und Sicherheit von Frauen in Deutschland (2004) haben 42% aller 10.000 befragten Frauen im Lauf ihres Lebens psychische Gewalt erlebt, https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/infothek/gewalt-gegen-frauen/studienergebnisse/bmfsj-2004.html, Zugriff am 25.06.2023.

6 Schlensog-Schuster, F. et al. (2022). From Maltreatment to Psychiatric Disorders in Childhood and Adolescence: The Relevance of Emotional Maltreatment. Child Maltreatment, 0 (0).


Schichtarbeit, Dr. Anne Simone Kiesiel, 2021

Text zur Ausstellung „Schichtarbeit“ im mom ART space, 2021

Filigrane Zeichnungen, in die Bildtiefe geschichtete Collagen, raumgreifende Installationen aus Latex und aus zarten Metallketten – die Arbeiten der beiden Stipendiatinnen des Atelierstipendiums Mümmelmansberg könnten kaum unterschiedlicher sein und sind doch im Kern überraschend verwandt. Die Doppelausstellung von Simone Karl und Daniela Wesenberg mag im ersten Moment überraschen oder sogar irritieren. Auf den zweiten Blick dagegen ergeben sich zwischen den Werken Querverbindungen, die ein Kaleidoskop unterschiedlicher Perspektiven auf Themen bieten, die sich nicht unähnlich sind. Denn beide Künstlerinnen betrachten in ausdruckstarken Bildfindungen tradierte Ideen und stellen sie auf den Prüfstand. Durch die verschiedenen Schichten unserer Erwartungen graben sie sich bis zur Essenz einer Idee vor und befreien sie von vorgefassten Meinungen. So liefern sie ungewohnte Blicke auf Gegebenheiten, denen wir im besten Fall mit unverstelltem und unvoreingenommenem Blick wiederbegegnen können.

Raum ist eines der zentralen Themen, das sich im Schaffen beider Künstlerinnen findet. Bei Daniela Wesenberg begegnen wir einer abstrakten Reflektion über den Raum. In Ihren unbetitelten Acrylzeichnungen aus dem Jahr 2019 schweben warmgelbe, weichgrüne und von Silber zu Blau verlaufende Konstruktionen vor dem weißen Bildgrund. Manche sind akkurat gesetzt, andere brechen aus der Geradlinigkeit aus, indem sie sanft in die Breite verlaufen, als habe ein Wassertropfen die Begrenzung fortgespült. Aber sehen wir tatsächlich räumliche Strukturen? Oder doch vielmehr eine Anzahl von Linien, die aneinanderstoßen? Sehendes Sehen und wissendes Sehen prallen hier aufeinander. Wir interpretieren, basierend auf unserer Welterfahrung, einen Illusionsraum, wo eigentlich „nur“ eine Linie auf das Papier gesetzt ist. Raum, das lässt sich hier auf sinnliche Weise erfahren, ist letztlich  ein Produkt unserer Wahrnehmung. Gepaart mit Wissen und gespickt mit einer Prise Phantasie benötigt dieser Raum nur eine einzige Linie auf einem Blatt Papier, um für uns in Form von oben und unten, rechts und links oder als Horizont existent zu werden. „Man erblickt nur, was man schon weiß (…)“, bemerkte bereits 1819 Johann Wolfgang von Goethe.[1]

Wie stark unsere Erwartungen unsere Wahrnehmung prägen, führen auch Simone Karls Collagen vor Augen. Mit dem Skalpell gräbt sie sich in die mediale Wirklichkeit hinein. Einzelne Elemente dieses künstlich erzeugten Raumes extrahiert sie dabei und fügt sie in Schichtungen von bis zu 500 Ebenen zu neuen Bildwirklichkeiten zusammen. Der so generierte neue Bildraum liefert der Wahrnehmung Störungsmomente und rezeptive Stolpersteine: menschliche Körper existieren hier nur als Fragmente und nehmen in Addition mit Strukturen und Formen dennoch Gestalt an. Welche der einzelnen Strukturen dabei organischer und welche textiler oder anderer Natur sind, lässt sich dabei oftmals nicht sagen. Ebenso lässt sich das Geschlecht der fragmentarisierten menschlichen Erscheinungen kaum bestimmen. Auch Simone Karl spielt mit der Wahrnehmung und dem menschlichen Drang, Dinge stets „lesen“ zu wollen. Denn grundsätzlich suchen wir in allem einen Sinn. Läuft das Wahrgenommene unseren Erwartungen entgegen, dann setzt dieser Moment im besten Fall einen Reflektionsprozess in Gang, der uns hier mitten hinein in eine Medienkritik im Sinne einer Überästhetisierung des menschlichen Körpers sowie in Genderfragen und feministisches Gedankengut führt.

Der Ausbruch aus normierten Kategorien ist ebenfalls Thema von Simone Karls raumgreifender Installation mit dem Titel Katarakt. Einem Wasserfall gleich fließen unzählige weiche, elfenbeinfarbene Girlanden von der Decke in den Raum hinein. Eine starke Körperlichkeit ist auch dieser 2017-2019 entstandenen Arbeit zu eigen: Das Material der Installation lässt durch seine Weichheit Assoziationen an menschliche Haut aufkommen. Erst bei näherer Betrachtung erschließt sich, um was es sich bei den Girlanden handelt: Tausende Latexhandschuhe hat die Künstlerin miteinander verknüpft. Diese eröffnen drei Kategorien, welche eine Bandbreite gesellschaftlicher Stigmatisierung von typisch weiblichen Berufen abbildet, denn als Arbeits-Utensil sind sie grundlegend für die klassischen „Care-Berufe“: Pflegerin, Putzfrau und Prostituierte. Alle drei vereint, dass sie entweder kaum Ansehen genießen oder schlecht bezahlt werden, im System der sozialen Schichten auf den unteren Rängen rangieren und oftmals in Schichtarbeit ausgeführt werden müssen. Dabei repräsentieren sie die wesentlichen Charakteristika, die bis heute von einer Frau erwartet werden: sie soll fürsorglich, häuslich und gleichzeitig sexy sein. Mit ihrer Installation verwebt Simone Karl auf anschauliche Weise die Hände vieler Personen ohne dabei moralisch anklagend zu werden. Vielmehr präsentiert sie eine ästhetisch ansprechende Arbeit, die Raum für die subjektiven Projektionen des Betrachters lässt. An diesem liegt es, welche der drei Berufe er erkennt, sein individueller Hintergrund ist ausschlaggebend für die Rezeption. Dass sich aktuell, in Anbetracht der Corona-Pandemie, neue inhaltliche Ebenen eröffnen, unterstreicht die Vielschichtigkeit der Arbeit.

Normen und auferlegte Gesetzmäßigkeiten beschäftigen, auf wesentlich abstraktere Weise, auch Daniela Wesenberg. Allerdings sind es selbst auferlegte Gesetzmäßigkeiten, an denen sich die Künstlerin abarbeitet. In den filigranen blauen Zeichnungen aus dem Jahr 2020 arbeitet sie systematisch nach dem stetig gleichen Prinzip: Ein mit Pigment eingefärbter Faden wird immer und immer wieder den Gesetzen der Schwerkraft übereignet. Aus der Befragung dieser grundlegenden Gesetzmäßigkeiten ergibt sich nach und nach ein Bild. Die vielfache Wiederholung der theoretisch immer gleichen „Linie“, nämlich des Fadens, stellt sich als jeweils neue und scheinbar einzigartige Linie heraus. Der Prozess offenbart auf abstrakt-poetische Weise, dass eine scheinbar normierte Voraussetzung keinesfalls zu gleichen Ergebnissen führt. Stattdessen präsentiert sie die bildgewordene Essenz der Idee der Varianz. Um Diversität geht es auch in Daniela Wesenbergs Installationen. Scheinbar redundant mögen Feststellungen wie diejenige anmuten, dass ein einziges Element in verschiedenen Zuständen auftreten kann. Am Beispiel der aus Messing gefertigten Objekte wird hier jedoch die Poesie, die aus dieser Tatsache resultiert, dargelegt. Geometrische Strukturen aus Messingstäben sind mit zarten Ketten verbunden, die in weichen Halbrunden zwischen den Gebilden mäandern. Die beiden Pole möglicher Zustände des einen Materials kommen auf feinsinnige Weise zur Geltung. Gleichzeitig werden Licht und Schatten zu wesentlichen Konstituenten der Werkbildung: je nach Betrachterstandpunkt generieren sich stetig neue Ansichten der Schattenwürfe wie auch der Gebilde selbst. Die Wahrnehmung erfolgt hier Schichtweise: mit jedem Standpunkt nehmen wir eine weitere mögliche Perspektive wahr.

Schichtweise findet auch die Befreiung aus einem künstlichen Kokon in Simone Karls Videoarbeit I Love you till death statt. Die im vergangenen Jahr entstandene Arbeit lässt in knapp 5 Minuten ein eindringliches Bild von Auferstehung und Neuanfang entstehen. Gleichzeitig keimen in Anbetracht des Plastik-Kokons, aus welchem sich die Künstlerin mühsam herausschält, Assoziationen an die Entfremdung des Menschen von der Natur und die daraus resultierende zunehmend toxische Beziehung auf. Der Titel der Arbeit greift diese auf, der Mensch, so wird hier deutlich, neigt zunehmend dazu, die Natur „tot zu lieben“. Statt eines Miteinanders im Einklang, bildet sich der Mensch zunehmend zum Feind seiner Lebensgrundlage heraus.

Reflektiv, nachdenklich, fragil, zartgliedrig, poetisch, kritisch sind die vielen Schichten von Wahrnehmung und Inhalt, die sich in dieser Ausstellung zu einem spannenden Dialog zusammenfinden. Interessant auch, dass alle diese Arbeiten in Schichtarbeit entstanden. Denn das StipendiatInnen-Atelier befindet sich in der Stadtteilschule Mümmelmansberg, Zugang nur zu Schulzeiten.

[1] Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich von Müller, 24. April 1819, In: Schriften zur Kunst, Propyläen, Einleitung, zitiert nach: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Zürich und Stuttgart 1948 ff, Bd. 13, S. 142).